Cover
Titel
The Reconstruction of Nations: Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus. 1569-1999


Autor(en)
Snyder, Timothy
Erschienen
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
£25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Veronika Wendland, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Leipzig

Timothy Snyders Studie will drei große Fragen beantworten, die die Geschichtsforschung seit den Umbrüchen, Krisen und Kriegen in Ost- und Südosteuropa beschäftigen: "When do nations arise, what brings ethnic cleansing, how can states reconcile?"(S. 1). Snyders räumlicher Untersuchungsrahmen ist das Territorium der Adelsrepublik Polen-Litauen, die von 1569 bis 1795 bestand und von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte. Das Vorhaben, die Nationsbildung der in dieser Geschichtsregion lebenden Polen, Ukrainer, Litauer und Weißrussen von den frühneuzeitlichen Ursprüngen bis zu den Staatsbildungen nach dem Ende der Sowjetunion zu verfolgen, ist begrüßenswert, da vergleichende und integrierte Studien über diesen Teil Europas rar sind.

Es ist nicht die Darstellung der jeweiligen Nationsbildungsprozesse selbst, die besticht, denn die beruht größtenteils auf bekannter Literatur und ignoriert bedauerlicherweise bis auf wenige Ausnahmen nicht-englischsprachige westliche Publikationen. Lediglich bei der Darstellung des fast vergessenen ukrainisch-polnischen Bürgerkriegs, der 1943-44 im Windschatten der deutsch-sowjetischen Auseinandersetzung tobte, liefert Snyder neue, quellengesättigte Befunde. Was vielmehr beeindruckt und Anreize zur Diskussion gibt, ist die Radikalität, mit der Snyder die Genese von Nationen auf "nationalisierende" Faktoren wie repressive Minderheitenpolitiken, Kriegserfahrungen und „ethnische Säuberungen“ zurückführt. Gerade der Fall Polen-Litauens eignet sich besonders zur Illustration solcher Voraussetzungen: Hier folgte auf die Transformation des Nationsbegriffes die oft von Gewalterfahrungen begleitete Nationalisierung der Bevölkerungen.

Die "polnische Nation" der frühneuzeitlichen Rzeczpospolita war ein im damaligen Europa einmaliges Konzept von großer Integrationskraft, das dem Adel innerhalb der politischen Klasse Multikonfessionalität und Vielsprachigkeit ermöglichte. Der Patriotismus der Eliten galt den Institutionen, die ständische Rechte garantierten, sowie den selbst erfahrenen Lebenswelten, in denen Polnisch zwar die Hochkultur- und Elitensprache war, Litauisch, Weißrussisch oder Ukrainisch jedoch die lokalen Umgangssprachen. Das Pendant zum Landes- und Lokalpatriotismus der Eliten waren die ebenfalls lange Zeit nicht "ethnisch" definierbaren Identitäten der von politischer Partizipation ausgeschlossenen Bauern und Stadtbürger, die sich über ihre Schichtzugehörigkeit, ihre Konfession oder schlicht ihren Wohnort als "Hiesige" definierten.

Snyder zeigt, dass solche Identitäten bis ins 19. und sogar 20. Jahrhundert eher die Regel als die Ausnahme waren. Der transnationale Adelspatriotismus lebte nach den Teilungen Polens in den föderalistischen Konzepten der polnischen Nationalbewegung fort, büßte aber im 19. Jahrhundert an Integrationskraft ein, sobald die zumeist bäuerlichen Unterschichten als Adressaten der Bewegung an Bedeutung gewannen. Der von den Trägern der polnischen Aufstände 1830, 1846 (Galizien) und 1863 erträumten Allianz von Herr und Bauer im Interesse der Wiederherstellung Polens standen nicht nur die krassen sozialen Gegensätze im Wege, sondern ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die soziale Mobilisierung der Bauern durch die Aufhebung der Leibeigenschaft, Schulbildung in der Muttersprache (so im Falle der Litauer) und politische Partizipation (so im Falle der Ukrainer in Österreichisch-Galizien). Aus dieser Schicht erwuchs ein neuer Typus gebildeter, der „Bauernsprachen“ mächtiger nationaler Aktivisten, die, so Snyder, das Konzept des pluralistischen Landespatriotismus zugunsten der ethnisch-sprachlich definierten Nationsidee verwarfen und als Fernziel die Deckungsgleichheit von ethnografischen und staatlichen Grenzen propagierten.

Wo dies scheiterte, wie im Falle der Weißrussen und der Ukrainer im Russischen Reich, deren Sprachen bis zur Revolution von 1905 in Schule und Öffentlichkeit kaum präsent waren, herrschten bis ins 20. Jahrhundert multiple oder lokale Identitäten vor. Wo die neue Konzeption sich durchsetzte, folgte auch bald die Neuerfindung der eigenen Geschichte, die in der Regel ein glorreiches, angeblich ethnisch reines Mittelalter unter der Herrschaft eigener Eliten der von polnischer "Fremdherrschaft" korrumpierten Frühneuzeit gegenüberstellte, um sodann die nationale "Wiedergeburt" im 19. Jahrhundert zu feiern. Der litauischen Bewegung gelang es, auf solchen Kunstgriffen ihre wichtigste Integrationsideologie aufzubauen, nämlich den Anspruch auf das "litauische", in Wirklichkeit aber zur überwiegenden Mehrheit von Polen und Juden bewohnte Wilna (der 1940/44 dann mit sowjetischer Hilfe in die Realität umgesetzt wurde).

Auf polnischer Seite wiederum machte der integrale ethnozentrische Nationalismus der Nationaldemokraten, der vor allem in Zentralpolen seine Anhänger hatte, dem von vielen Polen im alten Großfürstentum Litauen favorisierten Landespatriotismus den Garaus. Selbst charismatische Exponenten des letzteren wie Józef Pilsudski unterlagen nach der Wiederherstellung der polnischen Staatlichkeit letztlich den Kräften, die, ausgestattet mit großen parlamentarischen Mehrheiten, gegenüber Nichtpolen eine repressive Assimilationspolitik verfolgten. Grundsätzlich waren alle Staaten in der Region eher "nationalizing states" als "nation-states" auch die Sowjetunion, die unter Lenin und Stalin zunächst die "nationale Frage" zur Legitimierung der eigenen Herrschaft nutzte, um im zweiten Weltkrieg dann nationale Zuschreibungen zum Kriterium zu machen, das über Wohl und Wehe ganzer Bevölkerungen entschied.

Das Zeitalter der Extreme zersetzte die vor- und übernationalen Identitäten in der Region, je mehr Gewalterfahrungen gemacht wurden. Auf die Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges, die neben neuen Staaten auch frustrierte Kombattanten (wie die Ukrainer) und marginalisierte Minderheiten generierte, folgte im Zweiten Weltkrieg die ungeheure Brutalisierung unter erst sowjetischer, dann deutscher Besatzung. Eine gewaltsame "Lösung" national definierter "Fragen" wurde zur allgemein akzeptierten Normalität. Schlüssig legt Snyder dar, wie die unter beiden Besatzungsregimen mit Kennkarten und Volkslisten praktizierte Klassifizierung von Bevölkerungen nach ethnischen Zuschreibungen den sprachlich-organisatorischen Boden für gleich mehrere "Endlösungen" auf einem ehemals multikulturellen Territorium bereiteten.

Die sowjetischen Repressionen enthaupteten die Zivilgesellschaften; den deutschen Judenmord ermöglichten Zehntausende von Mitmachern, Denunzianten und Gaffern in den atomisierten und demoralisierten Gesellschaften des europäischen Ostens. In der Westukraine ging dann eine relativ kleine radikale Minderheit der sich von deutscher Oberherrschaft eine Chance zur Staatsgründung erhoffenden Ukrainer bei der Ermordung der Juden 1941/42 zur Hand. Das hier erworbene Know-how nutzten später ehemalige ukrainische Polizisten als Mitglieder von Partisaneneinheiten bei der Ermordung zehntausender polnischer Zivilisten, die der Errichtung des erträumten Nationalstaates Ukraine im Wege standen. Die grausige Dynamik, die ukrainischer Terror und polnischer Gegenterror entwickelten, wurde erst durch die Wiedererrichtung der Sowjetmacht in den betroffenen Gebieten gestoppt um dann unter der Herrschaft polnischer und russischer Kommunisten in den als "Repatriierung" euphemisierten ethnischen Säuberungen Südostpolens und der Westukraine vollendet zu werden. Dies besiegelte den endgültigen Untergang einer jahrhundertealten kulturell-sprachlich-konfessionellen Pluralität und ermöglichte die Entstehung von ethnisch nahezu homogenen Nachkriegsgesellschaften in den alten Grenzgebieten Polens.

Umso faszinierender ist daher die in den Schlusskapiteln nachgezeichnete Entwicklung, die nach dem Fall der Berliner Mauer aus durch hermetische Grenzen abgeriegelten, durch Erinnerungen traumatisierten und im Sowjetblock zwangsinternierten Bevölkerungen einander respektierende Nachbarn mit anerkannten Grenzen machte. Zu verdanken sei diese Entwicklung der Ostpolitik unter den polnischen demokratischen Regierungen der 1990er-Jahre, die letztlich doch den transformierten Konzepten der Föderalisten folgte. Die Erben dieser Denktradition, so der Kreis um die polnische Exilzeitschrift "Kultura", hätten aus der Emigration heraus die polnische Opposition beeinflusst, die später über den Runden Tisch in die Regierung wechselte.

Aus der föderalen Tradition stammte die Hochschätzung der östlichen Nachbarn, neu hinzu kam ein geopolitischer Pragmatismus, der in der Unabhängigkeit und Demokratisierung der östlichen Nachbarn sowie in einer möglichst weitgehenden Westintegration Polens die beste Sicherheitsgarantie erblickte, von überkommenen polnischen Leitkultur-Visionen im Osten aber abrückte. Im Falle Litauens ist nach Auffassung der Rezensentin diese Rechnung aufgegangen, im Falle der Ukraine ist sie offen, im Falle Weißrusslands darf man sie vorerst als gescheitert betrachten; wie sich die neuerliche Ausgrenzung der östlichen Nachbarn Polens durch die EU-Osterweiterung auswirken wird, bleibt abzuwarten.

Seine über vierhundert Jahre dauernde Transformations- oder "Rekonstruktions-" Geschichte hat Snyder in drei Teilen angeordnet, in deren Mittelpunkt das historische Großfürstentum Litauen als Heimat der Föderalismus-Konzeption, die Ukraine als großes nationales Konfliktfeld und Nachkriegspolen mit der Genese der "grand strategy" einer erneuerten Ostpolitik stehen. Diese große Erzählung wirft allerdings auch einige Fragen auf. Snyder beabsichtigt, eine Perspektive der „longue durée“ zugrunde zu legen, meint damit aber eigentlich nur den langen Berichtszeitraum, in dem es größtenteils dann doch nicht um die langen Dauern, sondern um den politischen Wellenschlag an der Oberfläche und die Schlaglichter der Katastrophen geht. Dabei macht Snyder selbst etliche wertvolle Beobachtungen, die einen konsequenter ausgearbeiteten longue-durée-Ansatz durchaus gerechtfertigt hätten, so die enorme Beharrungskraft vornationaler Orientierungen in der Bauernschaft, den Kleinadelseliten und den jüdischen Gemeinschaften oder die ungeheuer großen Gebiete (wie das im ukrainisch-weißrussischen Grenzland gelegene und durch die Tschernobyl-Katastrophe erneut isolierte Polesien), an denen nationalistische wie sowjetische Integrationsversuche bis zum heutigen Tage gescheitert sind. Auch eine genauere Analyse der „modernen“ ethnisch definierten Nationalideen und der politischen Sprache populistischer Litauer, Weißrussen und Ukrainer auf ihre aus der Volkskultur übernommenen Inhalte verweist auf den Nutzen eines solchen Ansatzes.

Zu diskutieren wäre auch Snyders Einordnung des Judenmords in ein Kontinuum deutscher, sowjetisch-russischer, polnischer, ukrainischer und litauischer Bestrebungen zur ethnischen Bereinigung von Territorien. Begrüßenswert ist Snyders Bestreben, die „Endlösung“ in Osteuropa nicht isoliert als Problem der deutschen und jüdischen Geschichte zu behandeln. Richtig ist auch seine Beobachtung, dass der von den christlichen Bewohnern der Region fast widerstandslos hingenommene bzw. durch Kollaboration sogar erleichterte Judenmord am Anfang einer ganzen Reihe weiterer genozidaler Aktionen stand. Gleichwohl ist es fragwürdig, die fast vollständige Auslöschung der osteuropäischen Juden mit dem grausamen Bürgerkrieg zwischen Ukrainern und Polen zwar nicht gleichzusetzen, aber doch sehr eng zu kontextualisieren.

Daneben macht sich negativ bemerkbar, dass wie so oft die Entwicklung der ukrainischen Nationalidee und -bewegung mit den Entwicklungslinien der ukrainischen Gesellschaft im westukrainischen Galizien gleichgesetzt wird. Die Dnepr-Ukraine als Reservoir protonationaler Traditionen und Personalreservoir der Nationalbewegung wird nur ungenügend wahrgenommen; der integrale Nationalismus des 20. Jahrhunderts wird aufgrund der Fixierung auf den Angelpunkt der ethnischen Säuberungen überbetont, während andere Traditionen, die auf die Erfahrungen eines Lebens in multinationalen Zusammenhängen zurückgehen, unterschlagen werden. Das Gleiche gilt übrigens auch für die das litauische politische Denken, das sich keinesfalls nur auf das völkische Denken reduzieren lässt. Die modernen, urbanisierten Nationen der Ukrainer und Litauer in ihrer heutigen Form sind auch, aber nicht nur auf die ethnischen Säuberungen der 1940er-Jahre zurückzuführen. Sie sind genauso das Produkt einer Mobilisierungsgeschichte in den Nachkriegs-Sowjetrepubliken (die im Übrigen gar nicht so homogen waren, wie Snyder nahe legt). Aber auch hinsichtlich der Zeit vor 1914 ist nicht nachzuvollziehen, warum die Ära der „early modern Ukraine“ (S.105-132) von 1569 bis 1914 dauern sollte. Konstitutionalisierung, Parlamentarisierung, Volksbildung, Genese der nationalen Öffentlichkeiten in Galizien, Urbanisierung und Industrialisierung der Dnepr-Ukraine fallen so in die „frühmoderne“ Periode. Allenfalls eine Kultur- und Sozialgeschichte der bis ins 20. Jahrhundert vorwiegend auf dem Dorfe lebenden Ukrainer, nicht aber der Ukraine würde eine solche Periodisierung rechtfertigen. Trotz dieser Einwände kann man Timothy Snyders Arbeit nur möglichst viele Leser auch außerhalb der Spezialistenkreise wünschen; es ist ein kluges und, was nicht unwichtig ist, auch ein spannendes Buch.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension